Interessanter historischer Artikel
Wir sprechen vom Kartenlesen wie vom Lesen eines Buches. Den Buchstaben entsprechen die "Kartenzeichen". Allerdings sind die Kartenzeichen ganz anders geartet, als die Buchstaben. Sie sind eine Art Bilderschrift, die jedoch so einfach ist, dass jeder sie an Hand der "Zeichenerklärungen" leicht erlernen kann. Bei neueren Karten ist außerdem eine Auswahl von Kartenzeichen auf dem Rande angebracht. Ober Anleitungen zum Kartenlesen.
Einheitliche Kartenzeichen gibt es so wenig, wie einheitliche Drucktypen. Jedes Kartenwerk hat bei aller Ähnlichkeit der Kartenzeichen doch seine eigenen, dem Maßstabe angepassten Typen.
Mit Hilfe der Zeichenerklärungen lernt man zunächst buchstabieren. Das fließende Lesen, also das Zusammensetzen der einzelnen Kartenbuchstaben - um diesen Vergleich weiter auszuspinnen - zu plastischen Bildern, ähnlich den Wort- und Satzbildern des Buches, bedarf natürlich längerer Übung. Hier kommt uns die Natur zu Hilfe, deren Abbild ja die Karte ist. Der Anfänger sollte die Karte recht häufig mit der Natur vergleichen, bevor er den Versuch macht, sie im Zimmer zu lesen. Besonders gut eignet sich zu diesem Vergleich das Messtischblatt, das noch alle Einzelheiten wiedergibt, allerdings nicht genau auf den Zeitpunkt bezogen, in dem der Beschauer die Natur sieht, sondern auf einen früheren Zeitpunkt, in dem die Karte hergestellt oder berichtigt wurde.
Wer eine Karte fließend lesen kann, das heißt, wer alle Kartenzeichen beherrscht und durch häufige Übung die durch sie möglichen Kombinationen schnell erfasst, wer nicht mehr einzelne Buchstaben sieht, sondern gewissermaßen zusammenhängende Worte und sinnvolle Sätze, der hat damit noch keineswegs alles das ausgeschöpft, was die Karte ihm zu sagen imstande ist. Die Krönung des Kartenlesens ist das Verstehen der Zusammenhänge, das Ziehen von Schlüssen, das Zwischen-den-Zeilen-lesen. An einigen Beispielen sei dies erläutert.
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Ein Beispiel: Der Kartenausschnitt zeigt den südlichen Teil der Gemarkung von Erdmannsdorf nordwestlich von Schmiedeberg im Riesengebirge. Erdmannsdorf ist, wie aus dem Messtischblatt hervorgeht, ein Waldhufendorf aus der Zeit der deutschen Siedlung. Auf demselben Messtischblatt (Nr. 3009) befindet sich noch eine ganze Reihe solcher Waldhufendörfer, so Cunnersdorf, Herischdorf, Giersdorf, Seidorf, Arnsdorf, deren Benennung zum Teil noch deutlich die Namen der Gründer verrät. Wie die meisten Waldhufendörfer ist Erdmannsdorf am fließenden Wasser gebaut. Es besitzt ein Gut mit Schloss und großem Park. Südlich von Erdmannsdorf liegt das Dorf Zillerthal. Verfolgt man die Gemarkungsgrenzen, die der größeren Deutlichkeit wegen verstärkt eingetragen sind, so erkennt man unschwer, dass die Gemarkung Zillerthal offenbar aus der Gemarkung von Erdmannsdorf herausgeschnitten ist. Zillerthal ist also der jüngere Ort. Ein solches Herausschneiden aus der Gemarkung eines bereits bestehenden Ortes ist ein seltener Fall. Bei der Gründung müssen also besondere Umstände mitgewirkt haben. Hier gibt uns der Name "Zillerthal" einigen Anhalt, der noch deutlicher wird, wenn wir den Namen "Tyroler Mühle" östlich von Zillerthal mit berücksichtigen. Mit ziemlicher Sicherheit können wir dem Messtischblatt entnehmen, dass hier Menschen eine neue Heimat gefunden haben, die, vielleicht ihres Glaubens wegen, aus Tirol ausgewandert sind. Wir können aber noch weitere Schlüsse ziehen. Es war wohl kaum ein einzelner Grundherr, der einen Teil seines Grundes und Bodens hergab, um diese Menschen anzusiedeln. Das konnte nur der Staat. Erdmannsdorf wird also Staatseigentum gewesen sein und wahrscheinlich heute noch dem Staate gehören.
In Zillerthal befindet sich eine große Spinnerei. Auch über den Grund ihres Entstehens gerade an dieser Stelle können wir aus dem Messtischblatt gewisse Schlüsse ziehen. Zur Schaffung einer Industrie an einem bestimmten Platze bedarf es gewisser Vorbedingungen, z. B. Kraftquellen, Rohstoffe, Absatzmöglichkeit. Dass die nötige Kraft in Form von Kohle oder Wasser hier nicht vorhanden ist, lehrt ein Blick auf die Karte. Aber auch die Rohstoffe dürften in dem hart an das Riesengebirge grenzenden, großenteils noch mit Wald bestandenen Gebiet nicht ausgereicht haben, um das Entstehen der Fabrik gerade hier zu rechtfertigen. Ähnlich ist es mit dem Absatz. So bliebe noch zu prüfen, oh hier einer der Fälle vorliegt, in dem nicht Kraftquellen, Rohstoffe oder Absatz, sondern vorhandene menschliche Arbeitskräfte den Anlass zur Gründung der Fabrik gaben. So scheint es hier in der Tat zu liegen. Die Gemarkung Zillerthal ist verhältnismäßig klein, viel kleiner, als die anderen umliegenden Gemarkungen. Es ist wohl möglich, dass sie von Anfang an nicht ausgereicht hat, um die Bewohner allein durch Ackerbau zu ernähren. Sie werden daneben irgendeine Hausindustrie betrieben haben. Vielleicht war dies bei der Gründung des Ortes sogar absichtlich vorgesehen. Der Siegeszug der Maschine wird die Rentabilität der hier heimischen Hausindustrie empfindlich geschädigt haben, so dass für die Menschen in Zillerthal eine schwere Zeit hereingebrochen sein dürfte, zu deren Behebung dann die Fabrik gegründet wurde. Diese beiden Beispiele mögen genügen. Man sieht aus ihnen, wie viel man aus den amtlichen Karten herauslesen kann, wenn man das Kartenbild zu deuten versteht. Allerdings muss man sich davor hüten, zu viel aus den Karten herauslesen zu wollen. Namentlich darf man nicht für Sicherheit halten, was immer nur Möglichkeit ist. Das Studium der Karte, wie es in diesen beiden Beispielen vorgenommen wurde, bedarf stets der Ergänzung aus anderen Quellen. Sicher ist aber, dass aus der Karte, besonders aus dem Messtischblatt heraus zahlreiche Fragen gestellt, zahlreiche Anregungen gegeben werden können, deren Lösung und deren weitere Verfolgung eine reizvolle Aufgabe sein kann.
Aus:
Das Reichsamt für Landesaufnahme und seine Kartenwerke, 1931, gekürzt